Research Group: War, Migration, Memory
Research Group: War, Migration, Memory
War, Migration, Memory
sind die Themen einer ukrainischen Forscher:innengruppe, die die transformativen Auswirkungen von Krieg, Vertreibung und Flucht auf Geschichte, Erinnerung, und Bindungen untersucht. Prisma Ukraïna: War, Migration, Memory befasst sich am Beispiel der Ukraine mit Fragen einer sich verändernden Erinnerung und Geschichte in Europa, mit der Resilienz pluralistischer Gesellschaften, den Auswirkungen von kriegsbedingter Flucht und Vertreibung, von Wissenschaft, Objekten und Bildern in Zeiten der Krise. Als Forschungsfeld eröffnet die Ukraine einen differenzierteren Blick aus und auf Europa und neue Möglichkeiten des Vergleichs auch mit Entwicklungen in anderen Regionen der Welt.
Die Forscher:innengruppe baut auf der Arbeit des 2014 von Andrii Potnov zunächst unter dem Namen Berlin-Brandenburg Ukraine Initiative initiierten Forschungsverbundes Prisma Ukraïna auf. Das Rahmenthema der Forscher:innengruppe wurde von Viktoriya Sereda konzipiert, die das Projekt von 2022 bis Ende 2023 als Senior Fellow des Forums Transregionale Studien geleitet hat. Sie bleibt der Forscher:innengruppe weiterhin als Mitglied und Beraterin auch in ihrer neuen Funktion als Leiterin der wissenschaftlichen Aktivitäten des Virtual Ukraine Institute for Advanced Study verbunden.
Die Gruppe besteht derzeit aus 10 Wissenschaftler:innen in der Ukraine und an Orten ihrer Flucht in Deutschland und der Schweiz. Sie haben sich in virtuellen und hybriden Treffen Themen und Formen der gemeinsamen Arbeit erschlossen, dokumentieren den Wandel von Erinnerung durch Interviews und Materialsammlungen, arbeiten an ihren eigenen Forschungsprojekten, stellen sie in Seminaren zur Diskussion und erörtern sie mit Wissenschaftler:innen aus anderen Regionen. Im Projektverlauf hat sich eine feste Arbeitsgruppe gebildet, die seit 2024 von der Soziologin Lidia Kuzemska koordiniert wird, die als Fellow an das Forum berufen wurde.
Die Forscher:innengruppe War, Migration, Memory arbeitet dezentral, ihre Mitglieder definieren nicht nur die Projektinhalte, sondern sie gestalten auch das wissenschaftliche Programm und die redaktionellen Prozesse der Wissenschaftskommunikation. In der Arbeit der Gruppe werden disziplinäre Ansätze (Soziologie, Linguistik, Geschichte, Medienwissenschaft, Kulturwissenschaft, Humangeographie), sowie qualitative und quantitative Forschungsmethoden miteinander verknüpft, multimodale Forschungsergebnisse produziert und an verschiedene Zielgruppen in der Ukraine und im Ausland weitergegeben und schließlich die politischen Implikationen der Forschungsergebnisse betrachtet und berücksichtigt. Die Forscher:innengruppe wird durch eine mehrsprachige und regionalkompetente Wissenschaftskommunikation und –administration am Forum unterstützt.
Als Projekt im Rahmen des Forschungsverbunds Prisma Ukraïna trägt die Forscher:innengruppe zu einer stärkeren Vernetzung von Osteuropa-Forscher:innen in und außerhalb der Ukraine und Berlins, über disziplinare, institutionelle und nationale Grenzen hinweg bei.
Prisma Ukraïna : und die Forscher:innengruppe War, Migration, Memory wird aus der Geschäftsstelle des Forums koordiniert und organisiert. Die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege des Landes Berlin stellt für das Projekt Personalmittel für die administrative und wissenschaftskommunikatorische Unterstützung der Forschungsgruppe am Forum zur Verfügung; die Gerda Henkel Stiftung unterstützt die Wissenschaftler:innen durch „sur-place“ Stipendien in der Ukraine und Residenzstipendien in Deutschland und der Schweiz, sowie durch zusätzliche Mittel für wissenschaftliche Veranstaltungen.
Die Ergebnisse werden in kollektiven editorischen Prozessen verschriftlicht und auf dem TRAFO-Blog veröffentlicht. In überarbeiteter Form erscheinen sie in den Dossiers des Forums. Zwei Dossiers werden im Verlaufe des Jahres 2024 veröffentlicht: Viktoriya Sereda (ed.): War, Migration and Memory. Transregional Perspectives on Russia’s War against Ukraine und Miglė Bareikytė, Natasha Klimenko, Viktoriya Sereda (ed.): Images and Objects of Russia’s War against Ukraine.
Nach einer Aufbau- und Konzeptionsphase 2022-2023, tritt das Projekt War, Migration, Memory mit der Förderperiode 2024 – 2025 in eine neue Phase ein, in der die Ergebnisse der bisherigen Forschung weiter konzeptualisiert werden sollen und neue Akzente gesetzt werden. Temporale Perspektiven sollen stärker herausgearbeitet werden, indem die Veränderungen zwischen der Vorkriegs-, Kriegs- und möglichen Nachkriegszeit in den Blick genommen werden.
Die Forschung wird entlang dreier, gemeinsam mit den Fellows entwickelten, Arbeitspaketen weitergeführt. Die thematischen Schwerpunkte sind:
Memory of War, Memory during War, Memory as War
Diversity of Displacement, Diversity of Returns
Rethinking Eastern European Studies in Times of Upheaval
Die Forscher:innengruppe möchte einen nachhaltigen Beitrag zur Internationalität ukrainischer Wissenschaft, der Neubestimmung der Osteuropa-Wissenschaften und der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen mit ukrainischen Wissenschaftler:innen leisten. Ihre Forschung beeinflusst die nationale Geschichtsschreibung und Neuordnung in dem Moment, in dem sich Geschichte ereignet und verändert.
Memory of War, Memory during War, Memory as War
Krieg ist eine zutiefst transformierende Erfahrung. Die Erfahrungen des Einzelnen und der Gruppe unterscheiden sich je nachdem, wo, wann und wie die Menschen den Krieg erleben. Ob vertrieben oder nicht, ob im Ausland oder in der Ukraine, ob unter Besatzung oder in der Armee, ob mit oder ohne medizinische Versorgung - die Erfahrungen durch- und Erinnerungen an den Krieg sind unterschiedlich und prägen das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen und der Gruppe. Kriegserinnerungen können nach dem Krieg zu einer Konfliktlinie werden, etwa wenn die offizielle Berichterstattung nur eine bestimmte Anzahl von Ereignissen, Personen und Gruppen in den Vordergrund der offiziellen Erinnerungskultur stellt, während andere Erfahrungen vergessen, zum Schweigen gebracht oder stigmatisiert werden. Wenngleich die offiziellen Medien dazu neigen, Menschen vereinfacht als Kollaborateure oder Verräter darzustellen, können der digitale Raum der sozialen Netzwerke, Kriegsberichte und individuelle Erfahrungen helfen, ein nuancierteres Bild zu erkennen und aufzudecken, wie sich Kriegserzählungen im Laufe der Zeit entwickeln.
Der Krieg verändert sowohl das kollektive Gedächtnis als auch individuelle Erinnerungen und nicht zuletzt auch die Geschichte selbst. Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg beispielsweise, sind ein Teil der persönlichen familiären Vergangenheit und ein konstitutives Element des sowjetischen ideologischen Systems. Die Erfahrungen des aktuellen Krieges wirken sich auf die kollektive und persönliche Erinnerung und Wahrnehmung des vergangenen Krieges aus. Dies hängt zum einen durch mit der früheren Instrumentalisierung des Zweiten Weltkrieges zusammen: Die sowjetische Erzählung des Großen Vaterländischen Krieges war eine Mischung aus Geschichte, Mythos und Propaganda, die von heutigen russischen Akteuren zur Rechtfertigung des Einmarsches in die Ukraine herangezogen wurde. Auch im ukrainischen Diskurs sind Bezüge auf den Zweiten Weltkrieg präsent. Hier wird jedoch der russische Aggressor mit den Nazis gleichgesetzt und das Territorium der Ukraine als Schlachtfeld des Krieges in Erinnerung gerufen.
Der Einfluss der aktuellen Kriegserfahrungen kann dazu führen, dass die Menschen ähnliche historische Erfahrungen früherer Generationen, insbesondere aus ihrer eigenen Familiengeschichte, neu beurteilen. Die Erinnerung kann die Erwartungen an die Zukunft beeinflussen: Das seit langem bekannte und vertraute Muster der Erinnerung und des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg kann die Erwartungen an das zukünftige Gedenken und die Darstellung der Erinnerung an den laufenden Krieg prägen. Darüber hinaus stellt die Neuformulierung von Erinnerungsnarrativen auch bestehende globale Narrative und mnemotechnische Praktiken in Frage, die für die aktuellen Dekolonisierungsdebatten in den Osteuropastudien relevant sind.
Diversity of Displacement, Diversity of Returns
Mehrere Mitglieder der Forscher:innengruppe befassen sich mit der erzwungenen internen und externen Vertreibung von Ukrainer:innen; Erfahrungen, die je nach Land der Vertreibung/Aufnahme unterschiedlich sind. Der Fokus liegt auf der Lage der nach Deutschland und Russland geflüchteten/vertriebenen Ukrainer:innen, sowie auf der familiären, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Lage der Vertriebenen (z. B. der onkologischen Patient:innen in Deutschland oder der Situation transnationaler Familien, die zwischen der Ukraine und Deutschland leben) und ihren Plänen für eine Rückkehr in die Ukraine.
In ähnlicher Weise werden die unterschiedlichen Auswirkungen der ukrainischen Kriegsvertreibung auf die Aufnahmegemeinschaften, z. B. in Deutschland in den Blick genommen. Die Darstellung der ukrainischen Geflüchteten als homogene Gruppe sowie der ukrainischen Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart in homogenen Begriffen scheint den beteiligten Wissenschaftler:innen nicht die Vielfalt der Vertreibungserfahrungen, der möglichen Auswirkungen und das Spektrums der Erwartungen an die Nachkriegssituation widerzuspiegeln. Insbesondere aus einer temporalen Perspektive wird deutlich, dass die Vielfalt der Vertreibungserfahrungen tiefgreifende Auswirkungen auf die Erwartungen an die Nachkriegssituation, beispielsweise in Bezug auf die ukrainischen Medien, das Gesundheitswesen und der Migrationspolitik hat.
Rethinking Eastern European Studies in Times of Upheaval
Das dritte Arbeitspaket beinhaltet die Reflexion über die Lage und die Ausrichtung der Osteuropastudien, die, ob in Deutschland, Westeuropa oder den USA, nicht länger Länder oder Minderheitengruppen im Osten des europäischen Subkontinents in einen von Russland dominierten Rahmen der Slawistik oder Osteuropastudien einordnen können. Als zentrale Frage erscheint die nach der Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaften für freie und offene Gesellschaften, ihrer Rolle in der Bekämpfung von Verzerrungen von Vergangenheit und Zukunft in Zeiten des Krieges und im Umgang mit autoritären Impulsen, Versuchungen und Praktiken. Forschungsbasiertes Fachwissen über die Ukraine ist nicht nur für akademische Zwecke und eine Neuorientierung der Osteuropa-bezogenen Wissenschaften wichtig, sondern auch für praktische politische Schritte bei der Gestaltung und Umsetzung der Rückkehr und/oder Integration ukrainischer Flüchtlinge, für die Stärkung des Zusammenhalts diverser Gesellschaften, für das Überstehen des Krieges und schließlich für den Wiederaufbau des Landes. So wie die Osteuropastudien nicht länger von den auf Russland fokussierten Themen dominiert werden können, bedarf es eines besseren und tieferen Verständnis der Geschichte und Gesellschaften der Nachbarländer, sei es die Ukraine, Polen, Belarus oder die Tschechische Republik.
Die Fragen der Neuausrichtung der Osteuropastudien in Deutschland und der Neuausrichtung der Geistes- und Sozialwissenschaften in der Ukraine und ihren Nachbarländern sind eng miteinander verwoben und müssen im Vergleich zu anderen Gesellschaften und Phänomenen inner- und außerhalb der Region untersucht werden. Osteuropa ist nicht mehr das, was es im letzten Jahrhundert war. Die tiefgreifenden Veränderungen in der Region haben unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit, die Ökologie und das wirtschaftliche Wohlergehen Europas insgesamt und auf das seiner Nachbarregionen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften in der Ukraine sollten die laufende breitere akademische Debatte über das Land und die Region nutzen, um darüber nachzudenken, wie mit dem Erbe des russischen Imperiums, der Sowjetunion und den vergangenen und aktuellen Beziehungen zu den Nachbarländern umgegangen werden sollte.